Stephan Theo Reichel beim 25. Rundgespräch in Dillingen an der Donau

Ein Abend voller Antworten: das 25. Rundgespräch mit Stephan Theo Reichel

„Das Kirchenasyl ist die Ultima Ratio. Wir machen das nur, wenn es um Gefahr für Leib, Leben, Menschenwürde geht“. Das sagt nicht irgendwer, das sagt Stephan Theo Reichel, der zuerst für die Evangelische Landeskirche in Bayern drei Jahre lang rund 700 Kirchenasyle betreut hat und nun den neugegründeten Verein „matteo – Kirche und Asyl e.V.“ als Geschäftsführer leitet. Und doch klingt es so, als wolle Reichel seinen eigenen Job am liebsten abschaffen: „Jedes Kirchenasyl ist ein Skandal“. Wie kann das sein? Das 25. Rundgespräch am 06. März 2018 im vollgefüllten Kath. Kirchenzentrum St. Ulrich gab Antworten.

Kirchenasyl sichert Menschenwürde

Entscheidend ist der zweite Satz, der nach dieser Aussage fiel: „Dahinter stecken skandalöse Zustände“. Reichel nennt die drei wichtigsten Gründe für Kirchenasyle, immer geht es um Abschiebungen: nach Afghanistan, nach Bulgarien und nach Italien. Über 1000 Menschen fanden daher deutschlandweit im Jahr 2016 ihre letzte Zuflucht in einer Kirchengemeinde, die Hälfte davon in Bayern. Aber sind die Zustände wirklich so schlimm? Wozu braucht es ein Kirchenasyl, dem vorgeworfen wird, das staatliche Asylrecht auszuhebeln?

Nicht hinnehmbares Leid

Reichel sagt: das Kirchenasyl springt überall da ein, wo der Staat dabei versagt, die Menschenwürde der Betroffenen zu schützen. Bei Abschiebungen nach Afghanistan, denn dieses Land kann nach Informationen des UNHCR, der Reisewarnung des Auswärtigen Amtes und nach glaubwürdigen Schilderungen von Soldaten, die dort stationiert waren, nicht als sicher eingestuft werden. Bei Rückführungen nach Bulgarien, denn in den dortigen Gefängnissen werden junge Geflüchtete misshandelt und geschlagen – Härtefälle, die das BAMF mit einem Hauch Sarkasmus schon „normal“ nennt, wie Reichel berichtet, weil sie dort so häufig vorkommen. Bei Abschiebungen nach Italien, denn dort „landen die Asylbewerber in Mailand bei Minusgrade auf der Straße, und nur das Rote Kreuz bringt ihnen Essen“, weiß Reichel. Und bei völlig unverständlichen Bescheiden des BAMF, von denen diejenigen, denen widersprochen wurde, zu 66 % von den Verwaltungsgerichten wiederaufgehoben werden. „Jeder Leiter einer lokalen Müllabfuhr würde gefeuert, wenn er solche Quoten hätte“.

„Das Wunder von Bayern“

Reichel kann das beurteilen, mit gutem und schlechtem Management kennt er sich aus. Bis vor vier Jahren war er noch leitend in einem großen DAX-Konzern tätig, dann kam die Flüchtlingskrise. Insbesondere die Kirchen engagierten sich, insbesondere hier im Freistaat, Reichel nennt es das „Wunder von Bayern“. „Ich fand das ungewöhnlich, dass die Kirchen da quasi ein neues Geschäftsfeld aufmachen, aber keine übergreifende Koordination dafür haben“. Also lässt er sich frühverrenten und macht sich an die Arbeit.
Seither habe er so viel über Religion gesprochen wie noch nie zuvor in seinem Leben. Denn: die zumeist sehr religiösen Flüchtlinge brächten ihre Bedürfnisse nach Spiritualität nach Deutschland mit, in ein Land, das sich vom „Nicht-mehr-Glauben-wollen“ habe verleiten lassen. In der Zuwendung zu den Flüchtlingen sieht er also auch eine Chance für die Kirchen: „Ich habe von Gemeinden gehört, die waren tot, und nun leben sie wieder“.
Die Zuwendung zu den Armen ist für ihn eine christliche Kernaufgabe. Daher auch der Name „matteo“. Er leitet sich von der Stelle im Matthäusevangelium ab, in der es heißt: „Ich war geflohen und ihr habt mich aufgenommen“.

Die Flüchtlingskrise als Chance

Reichel ist aber durchaus in der Lage, zu differenzieren: „Wir müssen abschieben – aber menschlich!“ Sein Verein setze sich auch dafür ein, dass Flüchtlinge wieder in ihre Heimatländer zurückkehren könnten – sobald dort Frieden herrsche. „Einfach in Lagos [der Hauptstadt von Nigeria, Anmerkung des Verf.] auf die Rollbahnen schmeißen reicht nicht“.
Auch habe die Kirche viele, bisher noch ungenutzte Möglichkeiten, Wohnraum bereitzustellen – nicht nur für Flüchtlinge. Denn die Flüchtlingskrise mache auf soziale Herausforderungen aufmerksam, die bereits vor 2015 bestanden hätten, aber bis dato ungelöst blieben. Nun bestünde die Chance, diese Probleme zu lösen, und zwar für alle Teile der Gesellschaft. Es gebe schließlich auch andere Themen als Flüchtlinge. Wenn er aber sehe, dass viele Menschen sich vor allem in der Kirche für dieses Thema engagiert hätten, dann stelle sich ihm die Frage: „Wie können wir erreichen, dass der Funken auf andere Themen weiterspringt?“

Von nichts kommt nichts

Klar scheint nach diesem Abend: von alleine wird nichts besser. Die Herausforderungen unserer Gesellschaft, egal ob es um die Integration der Flüchtlinge geht, um den Bau von Schulen oder um die Beseitigung der Altersarmut, lassen sich nicht lösen, wenn man zuhause vor dem Fernseher sitzt. Das geht nur, wenn man sich wie Reichel aufmacht – und anpackt, was anzupacken ist.

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