Ärzte ohne Grenzen

Ärzte ohne Grenzen [Quelle: wikimedia.com, Autor: nesimo] | CC BY-SA 2.0

Am 12. Mai 2018 erhielt Ärzte ohne Grenzen den Europäischen St. Ulrichspreis in der Studienkirche in Dillingen. In seiner Dankesrede sprach Dr. Volker Westerbarkey auch über das Recht zu fliehen. Wir dokumentieren die Rede in Auszügen.

Ich bedanke mich sehr herzlich für die Verleihung des Europäischen St.-Ulrichs-Preises an Ärzte ohne Grenzen […].

Ich freue mich auch deshalb sehr über den Europäischen St.-Ulrichs-Preis, weil er für uns unerwartet kommt. Er ist ein Preis, bei dessen Stiftungszweck – Verdienste um die Einheit Europas im christlichen Geist – man spontan nicht unbedingt an meine Organisation denkt. Ärzte ohne Grenzen begreift sich nicht als christliche Organisation, und sie wurde auch nicht als Beitrag zur Einheit Europas gegründet. Doch beim Nachdenken über unsere Prinzipien und Ziele bin ich zu dem Schluss gekommen, dass uns durchaus viel verbindet […].

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Zwei große Herausforderungen unserer Zeit

Ich freue mich über den St. Ulrichs-Preis zu diesem Zeitpunkt auch deshalb, weil Ärzte ohne Grenzen und die humanitäre Hilfe insgesamt derzeit vor einer Reihe von großen Herausforderungen stehen. Die internationale Staatengemeinschaft, aber auch die Zivilgesellschaft, muss sich wieder neu auf Grund-prinzipien einigen, die zunehmend in Frage gestellt werden. Ich möchte heute zwei für uns zentrale Prinzipien nennen: erstens die Verschonung von Zivilisten und medizinischen Einrichtungen im Krieg und zweitens die Notwendigkeit, dass Menschen die Möglichkeit haben müssen, vor extremer Gewalt und also vor Gefahr für Leib und Leben zu fliehen.

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Das zweite Thema, über das ich heute sprechen möchte, ist die Situation von Flüchtlingen und Vertriebenen weltweit. Wir erleben derzeit die größten Fluchtbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg mit mehr als 65 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen. Fast zwei Drittel von ihnen bleiben – erzwungenermaßen oder freiwillig – im eigenen Land. Seit 2015 hat Deutschland mehr als eine Million Geflüchtete aufgenommen. Das ist zweifellos eine große Leistung, und die Tage im Herbst 2015 sind sicher auch hier im Landratsamt und im Rathaus von Dillingen nicht spurlos vorübergegangen. Neben den staatlichen Behörden haben zahllose Menschen in ihrer Freizeit mit angepackt. Deshalb freue ich mich sehr, dass heute auch Vertreter von Flüchtlingshilfegruppen unter Ihnen sind.

„Du hast mein Leben gerettet“

Wir von Ärzte ohne Grenzen haben Ende 2015 ein kleines Team quer durch Deutschland geschickt, um uns stichprobenartig die medizinische Versorgung der neu Angekommenen anzuschauen – und das Ergebnis war: Die größte Lücke ist die psychosoziale Versorgung. Viel zu oft haben Menschen, die viel durchgemacht haben, keine Möglichkeit, professionelle Hilfe zu bekommen. Das gilt sowohl für das bestehende psychologische Hilfesystem, wo es sehr lange Wartefristen und wenig Zugang zu Übersetzerleistungen gibt. Es gilt aber auch für einfach erreichbare Hilfen direkt bei den Asylsuchenden vor Ort, die ihnen helfen, mit ihren Belastungen im Alltag zurechtzukommen. Solche Hilfe gibt es kaum. Ärzte ohne Grenzen hat seit vielen Jahren Erfahrungen mit psychosozialer Hilfe in Flüchtlingslagern weltweit. Deshalb haben wir im vergangenen Jahr zum ersten Mal ein Projekt in Deutschland gestartet, und zwar in Bayern – in der Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende in Schweinfurt. Wir haben zusammen mit dem örtlichen Krankenhaus St. Josef drei psychosoziale Berater geschult, die selbst vor wenigen Jahren nach Deutschland geflohen sind. Unter Anleitung und Supervision von Psychologinnen beraten sie seit mehr als einem Jahr die neu ankommenden Asylsuchenden in ihrer Muttersprache: auf Arabisch, Farsi, Somali etc. Sowohl die derzeit laufende wissenschaftliche Auswertung des Projekts als auch die Rückmeldungen der Menschen zeigen uns: Die Hilfe ist sehr wichtig. „Du bist der erste, der mich gefragt hat, wie es mir geht“, hat eine Frau aus Somalia unserem Berater nach dem Gespräch gesagt. Ein Asylsuchender, der in Libyen schlimmste Misshandlungen durch-gemacht hatte, war im Gespräch so verzweifelt und lebensmüde, dass unser Team ihn in die Psychiatrie überweisen musste. „Du hast mein Leben gerettet“, sagte er unserem Berater, als er wieder entlassen wurde. Eine der zentralen Erkenntnisse, die wir aus unserem Projekt in Schweinfurt gewonnen haben, ist: Nicht nur die traumatischen Erfahrungen in der Vergangenheit stellen große Belastungen für die Asylsuchenden dar, sondern in beträchtlichem Ausmaß auch die Unsicherheit in Deutschland und die Lebens-umstände in einer Massenunterkunft – besonders, wenn die Menschen nichts zu tun haben. Diejenigen unter Ihnen, die Asylsuchende in Dillingen begleiten, wissen, wie sehr Menschen darunter leiden, nicht arbeiten, einen Beruf erlernen oder einen Sprachkurs besuchen zu dürfen. Unsere Erfahrung ist, dass der Ausschluss von Asylsuchenden aus dem gesellschaftlichen Leben sich sehr negativ auf ihre mentale Gesundheit auswirkt. Deshalb kann ich aus medizinischen Gründen nur an die Behörden appellieren, jeden Spielraum zu nutzen, um diese vielfach belasteten Menschen nicht noch zur Untätigkeit zu verdammen […].

Die „Flüchtlingskrise“ ist in Wahrheit eine Vertreibungskrise

Deshalb meine Bitte: Denken Sie dieses Thema mit […]. Doch der Schwerpunkt unserer Arbeit mit Geflüchteten liegt natürlich nicht in Deutschland. Unsere Teams leisten insgesamt in mehr als 40 Ländern welt-weit medizinische Hilfe für Flüchtlinge und Vertriebene. Als internationale Hilfsorganisation, die sich stets den Verwundbarsten verpflichtet fühlt, sind wir deshalb überhaupt nicht damit einverstanden, wie dieses Thema derzeit in Europa diskutiert wird. Das beginnt schon mit den Begriffen: Die Krise, mit der wir zu tun haben, ist keine „Flüchtlingskrise“, denn es sind ja nicht die Geflüchteten, die sie ausgelöst haben – sondern ihre Vertreibung. Die globale Vertreibungskrise begann auch nicht 2015, sondern Jahre vorher, und sie ist noch längst nicht vorbei – im Gegenteil. Tatsächlich ist Europa nur marginal von der Vertreibungskrise betroffen, weniger als sieben Prozent der Menschen fliehen hierher. Allein in der Demokratischen Republik Kongo leben so viele Vertriebene wie Flüchtlinge in der gesamten EU. Bangladesch hat im vergangenen Sommer innerhalb von nur sechs Wochen dreimal so viele Flüchtlinge aufgenommen, wie im gesamten Jahr über das Mittelmeer in die EU gekommen sind. Angesichts der wiederholten Klagen, das reiche Europa sei mit der Ankunft der Menschen überlastet, fragen wir uns: Was sollen dann Bangladesch, Uganda oder die Türkei sagen, deren eigene Bevölkerung viel ärmer ist? In Europa selbst sind wir mittlerweile mit einer Politik der Abschottung konfrontiert, die die Gefahren und das Leid von Menschen auf der Flucht verstärkt. In manchen Fällen stellt die EU mit ihrer Politik sogar das zweite humanitäre Prinzip in Frage, über das ich heute sprechen möchte: Menschen müssen vor Gefahr für Leib und Leben fliehen können.

Grausame Misshandlungen in libyschen „Flüchtlingslagern“

In Libyen werden Zehntausende Flüchtlinge und Migranten entlang der Fluchtrouten unter katastrophalen Bedingungen gefangen gehalten und ausgebeutet, gefoltert, vergewaltigt und in Sklaverei gehalten. Diese Verbrechen sind ausführlich dokumentiert. Auch unsere medizinischen Teams auf dem Rettungsschiff Aquarius im Mittelmeer und in Libyen selbst sehen zuhauf die Narben, Wunden und Traumata, die die Misshandlungen bei unseren Patienten hinterlassen haben. Unsere Teams in Libyen haben zu diesen schlimmen Lagern keinen Zutritt, doch sie versuchen, wenigstens in einigen der offiziellen Internierungslager ein Mindestmaß an medizinischer Versorgung aufrecht zu erhalten. Dort gibt es nicht jene gezielte Brutalität, die wir aus vielen Berichten kennen, doch auch dort werden Menschen willkürlich und ohne rechtliches Verfahren festgehalten und unter entsetzlichen hygienischen Bedingungen auf engstem Raum eingepfercht. Diese offiziellen Internierungslager, die auf dem Papier unter der Kontrolle der libyschen Einheitsregierung stehen – dem Partner der EU und der Bundesregierung –, sind auch die Orte, an die die so genannte libysche Küstenwache die Menschen bringt, die sie auf dem Mittelmeer aufgegriffen hat. Die Bundesregierung und die EU-Staaten trainieren die libysche Küstenwache und rüsten sie massiv auf. Unser Team auf dem Rettungsschiff Aquarius befindet sich immer öfter in einer absurden Situation: Die italienische Seenotrettungsleitstelle in Rom lotst sie zu einem Flüchtlingsboot in Seenot in internationalen Gewässern, weist das Team aber an, die Bootsflüchtlinge nicht zu retten, sondern auf die libysche Küstenwache zu warten. Das Team muss dann mitansehen, wie die Menschen nach Libyen zurückgebracht werden, wo ihr Leben und ihre Gesundheit massiv in Gefahr sind. Die von der EU aufgerüstete libysche Küstenwache tut genau das, was EU-Schiffen völkerrechtlich verboten ist: Sie zwingt Menschen, die soeben aus Libyen fliehen konnten, dorthin zurück. Es wird ihnen unmöglich gemacht, der Hölle Libyens zu entfliehen. Es geht der EU offensichtlich nicht zuerst um deren Sicherheit, sondern darum, sie von Europas Küsten fernzuhalten.

Syrien ist sieben Jahre nach Kriegsbeginn ein Freiluftgefängnis

Auch in den Kriegsgebieten selbst werden unsere Teams zu Zeugen der dramatischen Folgen des Dominoeffekts sich schließender Grenzen, den die EU durch ihre Abschottungspolitik mitausgelöst hat: Syrien ist sieben Jahre nach Kriegsbeginn etwa eine Art Freiluftgefängnis. Praktisch alle Grenzen zu den Nachbarländern sind geschlossen. Im Nordwesten Syriens, in der Provinz Idlib, haben neue Kämpfe erst in den vergangenen Monaten eine der größten Fluchtbewegungen seit Kriegsbeginn ausgelöst. Hunderttausende wurden vertrieben, viele zum zweiten, dritten oder vierten Mal. Sie hausen in provisorischen Lagern ohne ausreichende Versorgung, in ständiger Lebensgefahr durch Luftangriffe und Kämpfe. Sie sitzen in der Falle: Die Grenzen sind dicht. Die Bundesregierung und die Europäische Union werden nicht müde, die Abschottungspolitik und die Deals mit Machthabern außerhalb der EU als Erfolg zu verkaufen. Doch aus der Sicht der Schutzsuchenden ist das Gegenteil der Fall. Zweieinhalb Jahre nach Beginn der systematischen Grenzschließungen sitzen mehr und mehr Menschen in Kriegsgebieten und in Situationen fest, in denen sie extremer Gewalt ausgesetzt sind.

Wir brauchen keine Festung Europa

Wenn wir heute mit dem St.-Ulrichs-Preis für Verdienste um die Einheit Europas ausgezeichnet werden, so sehen wir das auch als Aufforderung, die europäischen Staaten immer wieder auf die Folgen ihrer Politik für die Verletzlichsten weltweit hinzuweisen. Für uns ist zentral, wie sich das wohlhabende Europa mit seinen außerordentlichen Möglichkeiten gegenüber den Bedürftigsten in ärmeren Ländern verhält. Europa darf kein ausschließendes Projekt werden, eine Festung Europa, die das Leid von Schutzsuchenden aussperrt und ignoriert. Leider entwickelt sich derzeit Manches in diese Richtung, und leider stehen derzeit oft europäische Politiker hoch im Kurs, die sich rühmen, Europa hermetisch abzuriegeln, und die gegen Schutzsuchende als angebliche Gefährdung Europas Stimmung machen.

Das Völkerrecht verteidigen

Gleichzeitig hat Ärzte ohne Grenzen seine Wurzeln in Europa. Das humanitäre Völkerrecht wurde hier erstmals kodifiziert. Dazu gehören die Grundsätze, dass Zivilisten und medizinische Einrichtungen in Konflikten verschont werden müssen, und dass Menschen die Möglichkeit haben müssen, vor Gefahr für Leib und Leben zu fliehen. Dieser Teil des europäischen Erbes ist die Grundlage unserer Arbeit.

Diese Grundsätze müssen verteidigt werden. Indem Sie als Vertreter der Stiftung und des Kuratoriums die Bedeutung des Völkerrechts als Grundlage der europäischen Werte hervorheben, leisten Sie dazu einen wichtigen Beitrag. Und indem sie die konkrete, tatkräftige Hilfe der Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen weltweit unterstützen, machen Sie uns Mut und ermöglichen uns, weiter für unsere Patienten da zu sein.

Dafür sage ich Ihnen herzlichen Dank.

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Ärzte ohne Grenzen e.V. Die Rede gibt nicht automatisch die Meinung der Unterstützergruppe Asyl/Migration „Dillingen a.d.D.“ e.V., ihres Vorstandes oder ihrer Mitglieder wieder.

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